„Ich lag noch im Bett. Hatte nur wenig geschlafen. Halb von der Sonne schon geweckt, halb noch im Dämmer lag ich da. Finstre Gedanken beschlichen mich in diesem Zustand. Woher mögen Sie kommen? Ich weiß es nicht. Vielleicht stammen sie aus Träumen, an die man sich nach dem Erwachen nie erinnern kann, vielleicht stammen sie auch von außen, aus einem dunklen Substrat, unsichtbar für die Sinne, nur geistig mit uns verbunden. Woher sie auch stammen, sie weckten mich. Ein reißendes Gefühl verbreitete sich in meiner Brust, chaotische Empfindung. Mit offenen Augen starrte ich gen Decke. Meine Lieben kamen mir in den Sinn. Ganz deutlich sah ich ihre Gesichter und die Stunden, die wir in gemeinsamer Zuwendung verbrachten. Wie alt sie inzwischen schon sind, wie krank auch genug von ihnen. Was, wenn sie bald einmal nicht mehr sind? Wie ein Traumbild erschien es vor mir: ich halte eine abgemergelte Hand am Bettrand in irgendeinem scheußlich kalten Krankenhaus. Tränen stiegen in mir auf und Einsamkeit machte sich in meinem Herzen breit. Ich dachte darüber auch an die Zukunft. Was sollte nur werden? Ich bin nicht eigentlich schlecht gestellt, aber habe doch auch keine gute Ausbildung, wenig Geld und nur wenig Erfahrung. Leben würde man wohl noch, doch wie? Was ist noch lebenswert? Selbstmitleid kochte scharf, beißend und zugleich, wie öliger Balsam in mir auf und sofort verachtete ich mich dafür. So spaltete es sich in mir, ich taumelte, drohte mich zu verlieren. Wie eine Woge brandete Verzweiflung auf mich zu. Die Kehle wurde mir eng, die Brust klamm, als sitze ein Alb auf mir und drücke mir die Luft ab. Von der Zukunft fiel mein Gedanke dann unvermittelt in die Vergangenheit. Wieviel Unnützes habe ich getan, wie oft genug auch geradezu Schändliches! Der ganze Strom meines Bewusstseins durch die Zeit drohte aus den Fugen zu geraten, was geordnet war, geriet in Chaos, was Wert hatte, wurde wertlos. Für einen Moment blickte ich in den Abgrund. — Dann endlich, endlich brachen mir die Tränen hervor und entwickelten ihre sedierend-beglückende Wirkung. Sie gewährten mir die kurze Ruhe, die genügte, damit ich mich ermannte, aufstand und mein Tagwerk begann.“ So die mit einigem Gefühl und hervorgepressten Lauten geführte Rede unseres Mannes, wie er sie an den Einsiedler auf dessen Frage hin richtete. Auch nach dem so geschilderten Erlebnis, fiel er noch öfters in ähnliche Zustände zurück; zwischen Freunden, bei der Arbeit, besonders auf nächtlichem Nachhauseweg. Der Blick in den Abgrund hatte seine Spuren hinterlassen. Auch war er unfähig geworden innigliche Freude zu empfinden; tiefe Lust noch wohl, aber keine Freude.
Als er es nicht mehr aushielt, ging er hinaus, wanderte von der Stadt fort und hinauf in die dicht bewaldeten Berge. In alter Zeiten hatte man geglaubt, dass auf ihren Gipfeln allerlei magische Gestalten, Gnome und Hexen lebten; die Springwurzel sollte hier wachsen und die Melusine erweckt worden sein. Das alles war vergangen, doch eine andere eigentümliche Gestalt lebte inzwischen dort, um die sich allerlei neue Geschichten rankten: ein Einsiedler, manche sagten sogar ein Heiliger. Ihn zu suchen ging unser Mann aus.
Vollkommen unvorbereitet wie er war, strich er lange durch die Wälder und entlang der schäumenden Wildbäche, bis er den Einsiedler endlich fand. Oben auf einem Kamm fand sich ein säuberlich von Gesträuch ausgeräumter Flecken Wiese, von dem herab man bis hinunter zur Stadt blicken konnte. An seinem Rand, ragte ein Fels hervor, der wie ein Hünengrab einen kleinen Raum unter sich schloss. Diesen hatte der Einsiedler als Wohnstatt erwählt und seinen Besitz mit einem kleinen Georgskreuz über dem Eingang markiert. Der Raum war kärglich mit selbst behauenen Möbeln ausgestattet und ein halb offener Ofen qualmte des Winters in einer der Ecken. Allein, dem Einsiedler genügte es, obwohl er kein Asket im strengen Sinne war, eher einer, der in stiller Einkehr lebt, doch das Leben auf seine Weise liebt. Morgens stand er mit der Sonne auf, um sie zu begrüßen, arbeitete dann bis zum Mittag an einer steinernen oder hölzernen Tafel, die er am Nachmittag beschrieb und zum Sonnenuntergang zerbrach. So ging jeder Tag Jahr ein, Jahr aus. Nur bisweilen kamen Menschen aus der Stadt herauf, um Rat bei ihm zu suchen, denn er galt als ein weiser Mann. Nicht wenige Verzweifelte, wie unserer, kamen so zu seiner Höhle. Da gab es dann ungesäuert Brot zu essen und manchmal auch ein Glas Wein dazu, denn die Menschen brachten dem Einsiedler oft Genschenke dar.
Zu diesem Weisen flüchtete sich unser Mann also und erbat Rat. Der Alte empfing ihn freundlich und es schien, als wüsste er sofort, was ihn zu ihm führte. Er schenkte ihm Wein ein, gab ihm zu essen und sie setzten sich auf eine Bank vor der Höhle. Der Alte blickte ihm ins Gesicht und sagte: „Du hast es also gesehen.“ Erst nach kurzem Schweigen fuhr er fort, nachdem er ihm forschend in die Augen geblickt hatte, „Ja, du hast in den Abgrund geblickt und dich darüber gehen lassen. Denn erzähl einmal, was ist dir widerfahren?“ und unser Mann brachte die oben stehende Rede hervor, wie er sie sich wohl schon während seiner Einsamkeit im Walde oder während einiger Attacken unten in der Stadt zurechtgelegt hatte. Der Alte hörte nickend zu und meinte dann: „Nun höre, ich will dir dazu etwas sagen; vielleicht nichts sehr tröstliches, aber etwas, das verstehend macht und Verstehen ist der Weg zum Trost.
Der Abgrund in den du blicktest ist das Chaos, die Dunkelheit. Es beschleicht uns allerdings am häufigsten in den Stunden des Erwachens, seltener des Einschlafens. Die Begegnung mit dem Schlaf wirkt hier nicht erquickend, sondern wie jene mit der Betäubung, die bewusstlos macht. Wir steigen dann auf aus einer Sphäre aus der schreckliche Leere ins Gemüt einsickert, um zu lösen, was fest war und zu zersetzen, was sicher schien. Aber, das Chaos liegt nicht in dieser Leere, so wie die Dunkelheit nicht Finsternis ist. Erfüllte uns die Leere in jenen Momenten, so wären sie für uns nichts, so wie die Bewusstlosigkeit oder der Tiefschlaf nichts für uns sind. Allein im Chaos ist das Schreckliche: das formlose Leben, das Un-leben, das aus sich heraus gefallen ist und nun als unbestimmtes X ins Unendliche fällt. Der freie Fall vom Licht fort in völlige Finsternis, ist das Urbild des Schreckens.
Auf Form und Maß kommt es im Leben an. Die Entfernung von ihnen ist der Schrecken. Das Gegenteil der Form ist nicht die Leere, sondern das Chaos. Der Leere gegenüber ist das Sein, nur im Letzteren ist der Schmerz, das Leid, doch bedenke: dort ist auch die Freude. In der Leere hingegen ist nichts. So ist das Gegenteil von Form eben das Chaos, beide sind Bestimmungen des Seins. — Sein kann nicht zu nichts werden, denn Nichts ist nicht. Berührt aber das Nichts das Sein, und ist dieses nicht gewappnet, so ändert es lediglich seinen Zustand; seine Ordnung löst sich und es gerät ins Chaos. Wir erleben dieses tagtäglich. Im Schlaf berührt uns das Leere direkt, im Wachen nur indirekt, nämlich im Hässlichen. Das Bewusstsein vermeint sich gegen diese Berührung gewappnet, sodass sie es in seinem Gang nicht beeinflussen könne. Allein, der Mensch ist schwach und so findet das Nichts bisweilen doch seine Bresche und mag sie noch so klein sein, wie jenes eine leidige Türchen genügte, um Byzanz zu Fall zu bringen. Dann löst sich, was zuvor in Ordnung war und man gerät ins Fallen. — Wappnen muss man sich also gegen jene Berührungen, denn sie werden nicht ausbleiben. Der Weg dorthin ist die Einsicht in das Maß und die Form des Lebens.
Freilich ist der Weg dorthin nicht leicht. Mit geschlossenen Augen noch halb im Schlaf, tut das Nichts sein böses Werk und erwachen wir, werden wir des entstandenen Chaos gewahr. Die Lieben sind vom Tode bedroht, die Zukunft radikal ungewiss, Angst vorm Laster und Verlorenheit in sich selbst überhaupt. Diese Verlorenheit in sich und der Welt ist ja ohnehin der empfindungsmäßige Ausdruck des Chaos. — Haben einen diese Empfindung inniglich durchdrungen, schießen die Tränen an, als wäre man wieder jenes hilflose Kindlein, entfernt von der Elternbrust, auf das ein Chaos eindringt, welches man erst später ‚Welt‘ und Kosmos nennen wird, nachdem man die Form empfing; da kann man kaum anders, als auf die Knie zu sinken und betend um Form zu bitten, um Ordnung, ja kurz: darum, dass einem Liebe zuteilwerde. Um Kraft zu bitten oder um gutes Geschehen usw. sind alles nur Weisen, um Teile dieses einen inniglichsten Wunsches auszudrücken: „Bitte lass mir Wirklichkeit werden!“ Bitte schaffe aus dem Chaos Kosmos!, Ordnung!, Schönheit!, Wirklichkeit!, wie man es nennen will: es meint alles dasselbe, das dessen wir bedürftig sind. Darauf zu hoffen, dass uns die Gnade zuteil ward am Wirklichen, an Maß und Form teilzuhaben, diese Hoffnung trägt uns im Leben und hilft uns, uns gegen die Berührung des Nichts zu wappnen. Du siehst, ich habe auch in den Abgrund geschaut und empfunden wie du. Viele kommen zu mir herauf aus der Stadt, die empfinden wie wir. (Das ist schon der erste Trost: wir sind im Schrecken nicht allein, denn er gehört allen Menschen an.) Am Beginn lies ich mich gehen, wie du dich und die vielen anderen auch sich gehen ließen. Der Abgrund blickte in uns zurück, das Chaos potenzierte sich selbst, wie es dem Chaos eigen ist, denn es ist Krankheit und verzehrende Sucht. Doch dann floh ich hinauf hierher in meine Einsamkeit, um zu verstehen und so meine Sucht zu Sehnsucht, das Chaos zu Form, zu Maß und Gesetz hin zu überwinden. — Das will ich dir also sagen: Suche nur ehrlich, kräftig und mit Hass gegen das Hässliche in dir selbst und du wirst Form finden.“ Mit diesen Worten verhüllte der Alte sein Gesicht mit einem Gaze ähnlichen Lumpen und verschwand in der Höhle. Unser Mann blieb auf der Bank sitzen und wusste nicht recht, was er anfangen sollte, auch war er sich nicht sicher, ob er nicht ein leises Kichern aus der Höhle vernahm. Er aß auf und stieg hinunter zur Stadt.