Dialog über die Tugend


Dient die Tugend dem Vergnügen oder ist sie selbst etwas?

Sprecher A und B auf nächtlichem Heimweg

1. Einleitung: Beginn des Spaziergangs. Bestimmung des Gegenstandes der Untersuchung.

A: Du warst recht lustig heut unter uns alten Freunden, aber viel von dir selbst hast du nicht gesagt. Also sprich, wie ist‘s dir ergangen seit dem du fort von unseren Hängen, fern hin zum schroffen Gebirge gegangen bist. Ist dir die Heimat nicht fremd geworden?

B: Fremd nicht, mir scheint vielmehr, indem ich zu ihr zurückkehre, dass ich sie nie so geschätzt habe wie jetzt. Was zuvor alltäglich war, fällt mir nun durch den veränderten Blick als schön und außergewöhnlich auf. — Und allerdings ist mein Leben dort sehr anders als hier. Erinnerst du dich noch an den Tag, als ich von hier aufbrach, um fort zu gehen?

A: Oh ja, ein toller Abend. Ich erinnere mich gut, wie du zuletzt auf den Stuhl gestiegen bist und unter lauter Possen von den Schönheiten des Studentenlebens gesprochen hast, die dich nun erwarteten.

B: Richtig, allerdings verstand ich damals noch wenig von der ‚Schönheit‘ und auch das dortige Leben war dann anders, als ich damals erwartet hatte. Lange schwankte ich hier- und dorthin und stand nie recht fest bei dem, was ich tat. So ging es fort, bis ich mich zu den Philosophen gesellte. Dort fand ich Ruhe und lebe seither heiterer.

A: Oh, dann spreche ich wohl mit einem weisen Mann? — Das interessiert mich, diese ‚Heiterkeit‘. So als Philosoph, kannst du mir sicher etwas darüber sagen, wie man gut leben soll.

B: Ein großes Wort. Der Weisheit liebende strebt noch zur Weisheit. Hat man aber das, was man erstrebt?

A: Wohl nicht, aber ich will dennoch von dir hören, was du dazu zu sagen hast.

B: Nein, das weiß ich wirklich nicht, aber vielleicht ja du. Wonach man fragen kann, das weiß man schon zu gewissem Grade. Sag du es mir, ich will dann sehen, was es in mir auslöst.

A: Nun ich habe einmal gehört und es erschien mir richtig, dass jeder werden solle, was er ist.

B: Und was ‚ist‘ man in diesem Sinne?

A: Naja, ich denke man meint es so, dass jeder das, was er kann und tut möglichst gut machen soll.

B: Soll also jeder alle seine Fähigkeiten möglichst stark entwickeln? Oder wie meinst du?

A: Ja, so meine ich es.

B: Gibt es aber nicht auch schlechte Eigenschaften? Soll er die auch entwickeln?

A: Nein, natürlich nicht. Ich sehe schon, man macht euch da drunten zu rechten Haarspaltern.

B: Aber wie denn?

A: Er soll natürlich nur die guten Eigenschaften entwickeln, wenn er das aber tut und alles hat, was er zum Leben braucht: Nahrung, Liebe, Freunde und ein schönes Plätzchen zum Wohnen, so lebt er meiner Auffassung nach gut.

B: Na siehst du, du weißt es doch schon. Und übrigens: gibt es einen Lebendigen, der nicht schon für sich wüsste, was das ‚gute Leben‘ ist?

A: Du duckst dich weg, aber so leicht lasse ich nicht ab. Natürlich hat jeder eine Vorstellung vom guten Leben, aber mir scheint, nicht jede davon ist richtig. Deswegen frage ich ja nach deiner Auffassung in diesen Dingen, damit ich meine überdenken kann.

B: Mir scheint das bereits eine nicht leicht zu entscheidende Frage zu sein, aber setzen wir das einmal. — Du meinst also, man muss zum guten Leben teils in sich gut sein, indem man seine guten Fähigkeiten voll entwickelt und teils in guten Umständen leben.

A: Genau.

B: Also eins nach dem anderen: Hängen die guten Fähigkeiten mit den guten Umständen zusammen oder sind sie je für sich getrennte Bestandteile des guten Lebens?

A: Teils, teils. Einige Umstände benötige ich, um meine Fähigkeiten zu entwickeln, andere nur damit es mir gut geht, andere damit ich auch anderen Gutes tun kann.

B: Sieht du, wie sich da ein weiter Ozean von Fragen vor uns auftut? Keine schlechte Beschäftigung wäre es sicher, auf ihn mutig auszufahren und nach und nach alle in ihm gelegenen Inseln zu besuchen, mit fremden Gewächsen und Ureinwohnern des Geistes. Doch unser Weg ist nicht lang. Mit welchem Teil wollen wir also anfangen? Nicht ausgeschlossen übrigens, dass sie sich zuletzt alle als eines zeigen.

A: Ein verlockendes Bild zeichnest du da, doch mich interessiert vor allem, was du mit dieser dunklen Bemerkung zuletzt meintest.

B: Also gleich ins Allgemeine? Gleich vom Himmel her den ganzen weiten Ozean überblicken, so dass die reich belebten Inseln darin zu kaum sichtbaren Punkten werden? Wolltest du nicht konkret gut leben?

A: Nicht viel drum herum geredet, sondern sag mir, was du damit meintest.

B: Nun mir schien es merkwürdig, dass du alles jenes als ‚gut‘ ansprachst. Die guten Umstände, die guten Fähigkeiten, gut für andere sein usw.

A: Das war es? Das scheint mir ein natürlicher Ausdruck der Sprache zu sein.

B: Aber man meint doch damit auch etwas. Was meintest du also, wenn du ‚gut‘ sagtest.

A: Ich möchte fast sagen: nichts, denn es war doch auf das bezogen, worüber ich es sagte.

B: Schön, dann fassen wir es anders: Was zeichnet das, was du ‚gut‘ nanntes, als gut aus?

A: Puh, so abstrakt ausgedrückt kann ich das nicht sagen.

B: Meintest du es nicht so: Eine Sache ist so ‚gut‘, wie sie qualitativ dem nahe kommt, wie sie am besten wäre? Sprich: Du hattest ein Ideal vor Augen, das beste Haus zum Wohnen, den besten Freund, das beste Ausüben einer Fähigkeit und bemaßt danach, wie ‚gut‘ das jeweilige ist.

A: Ja, ich denke, so könnte ich es gemeint haben.

B: ‚Gut‘ deutet also auf einen Maßstab.

A: Dann suchen wir nach dem Maßstab des guten Lebens! Wie lautet der also?

B: Wenn ich den Maßstab besitze, genügt das dann schon zum guten Leben? Ich will doch auch etwas damit tun. Nehme die Sache einmal so: Was macht das Leben allgemein und abstrakt aus? Nicht das wir in der Welt teils Fähigkeiten erwerben, gut werden und also einen Maßstab erlangen und teils dann gemäß diesen Handeln?

A: So scheint es — abstrakt gesprochen.

B: Aber ins Abstrakte und Allgemeine wolltest du ja! Es erleichtert auch die Untersuchung. Wir wollen es also noch einen Schritt weiter treiben: Welche Art der Handlung, scheint dir zum guten Leben vor allem interessant: eine solche, die allein darauf geht dieses und jenes zu tun (einen Tisch zu zimmern, einen Rebstock zu pflanzen usw.), oder eine solche, die darauf geht, was man tun soll? Das erste wäre eine Tätigkeit, das zweite eine Entscheidung.

A: Mich interessiert vor allem die Entscheidung. Für die ‚Tätigkeit‘ müssten wir wohl ohnehin den jeweiligen Fachmann fragen. — Also genug Vorgeplänkel. Sag mir, was du in diesem Sinne über das gute Leben denkst.

2. Allgemeine Bestimmung der Tugend.

B: Ich kann dir sagen, was die Weisen dazu meinen, denn selbst verstehe ich davon wie gesagt nichts. — Sie aber sagen, man müsse der Natur gemäß leben und darin das rechte Maß finden.

A: Zugestanden, dass ich dich durch ihren Mund höre. Wie also meinen sie das?

B: Nun ich meine so: An der ‚Natur‘ zeigt sich die Vieldeutigkeit der Sprache, durch die man sich ohne Prüfung leicht missversteht. Die Natur meint die ‚Essenz‘, was mir und dir, den Menschen unveränderlich zugrunde liegt, sofern wir nur Menschen sind. Dieses Unveränderliche teilen wir zum einen mit anderen Wesen und so kommt es uns zu, sofern wir lebendig sind. Das ist auch gemeint, aber nicht vor allem; man sagt, es ist nicht das Wesentliche. Gemeint ist das Unveränderliche, das spezifisch uns Menschen zukommt. Dieses muss man einsehen, es in sich pflegen, hegen und vervollkommnen, dann wird man in sich ein Genügen haben und auch durch äußere Störung, nie unglücklich werden können, denn an sich ermangelt es einem an nichts. Was uns aus der Sphäre des bloß Lebendigen, des Animalischen angeht, wird sich dem eigentlich Menschlichen unterordnen. Sie denken dabei an Dinge wie das Essen und Trinken, auch den Schlaf und überhaupt solche Dinge, die alle eine gewisse leibliche Lust bei sich führen. Diese ist nicht zu verwerfen, allerdings ist sie nicht das Beherrschende. Man hat Lust daran, aber sie hat nicht einen; man könnte jeder Zeit auch ohne sie. Am ewigen Besitz, sofern man ihn an sich voll entwickelt hat, hat man bereits so viel, dass man glücklich lebt. Er gebietet dabei von sich aus, im animalischen nicht den Exzess zu suchen, sondern ein Maß zu halten, dass der fortwährenden Ausübung des Menschlichen nicht entgegen ist. — Sollte das Animalische die Ausübung des Menschlichen jedoch einmal unmöglich machen, etwa durch unheilbare schwere Krankheit oder wenn man in derart bittere und fortwährende Armut verfällt, dass Hunger und Mühe den Geist vernebeln oder wenn man schließlich dauernden äußeren Zwängen erliegt, beispielweise durch Sklaverei, so halten sie eine letzte Bastion des Menschlichen bereit, die das Animalische niemals erstürmen wird: den Freitod. — Das Menschliche in sich zu erkennen und ihm zu leben, heißt ihnen also der Natur gemäß zu leben. Sie sprechen es auch oft als das Göttliche an.

A: Mir scheint das eine seltsame Lehre. Was ist denn am Menschen Spezifisches und Nicht-Animalisches? Ich sehe wohl, dass wir zwar den Tiere in vielerlei Hinsicht ähneln und sogar sehr, dass uns aber auch etwas von ihnen trennt, jedoch scheint mir dieser Unterschied diffus und ungenau zu sein, überhaupt nur ein Unterschied dem Grade nach und kein Absoluter.

B: Was sie meinen ist die Vernunft, also dasjenige womit wir die Welt begreifen und formen. Sie gut auszuformen, also zu vervollkommnen heißt, gut erkennen zu können und Einsichten zu erlangen. Die Abgrenzung gegen die Tiere ist freilich schwierig und obwohl es war ist, dass wir bisher an den Tieren keine universelles Erkennen von Zwecken, Fähigkeit zu Reflexion und also eigentlichem Selbstbewusstsein und was sonst noch dazugehört feststellen konnte, da wir keine hinreichend komplexe Form der Sprache an ihnen entdeckten, mittels derer sie uns über so komplexe Sachverhalte (namentlich zu komplex für einfache Beobachtung) hätten Aufschluss geben können, doch das ist auch nicht der wesentliche Punkt. Wichtig ist nur, dass die Vernunft verschieden ist von den bloßen Sinnen und damit der leiblichen Lust.

3. Prüfung des Gesagten. Was zeichnet ein oberstes Prinzip in praktischen Dingen aus?

A: Wie soll ich das aber zugeben, wenn ich nicht weiß, was ‚Vernunft‘ meint? Von der Lust meine ich zu wissen, was es zu wissen gibt, die hat man nun mal und sie fühlt sich gut und richtig an. Aber Vernunft? Ich habe wohl mal etwas erkannt, aber mir ist nicht klar, warum das Erkennen selbst etwas Gutes sein soll, es geht mir doch wenn überhaupt um das, was ich erkannt habe und dann vielleicht auch nur wieder darum, weil ich Freude und Lust daran habe.

B: Du bist also heute Abend zu unserem gemeinsamen Freund gekommen, weil es dir Lust bereitete?

A: Auch wenn es mir nicht ganz richtig erscheint, will ich ‚ja‘ sagen, um zu hören, was das mit der ‚Vernunft‘ zu tun hat.

B: Wie stellt sich so eine Situation aber dar: Ich meine tatsächlich verhält es sich nicht so, dass man dieses oder jenes tut, nur weil es Lust bereitet. Tatsächlich steht man doch immer vor einer Entscheidung und sei es nur der etwas nicht zu tun: nicht zu uns heute Abend dazuzukommen – was natürlich sehr schade gewesen wäre, aber es geht ums Prinzip: ‚There is no such thing as a free lunch.’ Man hätte doch immer auch etwas anderes tun können. Man steht nun also vor der Wahl und du meinst, man sollte stets das wählen, was die größere Lust gewährt?

A: Ja, das meine ich.

B: Gut, nun einmal angenommen: Wir hätten die Klausuren für dieses Semester noch nicht hinter uns und morgen wäre gerade die nächste. Wie wäre deine Wahl heute Abend gefallen?

A: Oh, das weiß ich nicht, ich wäre vielleicht trotzdem gekommen, aber ich sehe deinen Punkt. Ich will also sagen, dass die langfristig größte Lust das ist, was ich erstrebe – eingerechnet, dass ich sofortige Lust etwas besser finde als spätere. Man weiß schließlich nie, was noch kommt.

B: Das genügt mir vollkommen! Denn es ist jetzt klar, dass, sofern wir Lust als unser primäres Entscheidungskriterium setzen, das nicht eine Art Automatismus ist, sondern Abwägung erfordert. — Also weiter: Wenn ich nun abwäge, welche Entscheidung mir langfristig die größte Lust verschafft (und von mir aus auch unter Berücksichtigung einer gewissen Diskontierung für die Spanne eines Menschenlebens), ist es da einerlei welche Lust ich maximiere? Ich meine das so: Gibt es nicht verschiedene Lüste? Ist die Lust, die ich beim Aufziehen meiner Kinder einmal erfahren werde oder die ich beim Führen eines mathematischen Beweises empfinde dieselbe? Und gleichen sie etwa der Lust, die ich empfinde, wenn ich mir einen Schuss Heroin setze?

A: Mir scheint nein. — Ich muss also nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ abwägen bei meiner Entscheidung, was mir die größte Lust verschafft. Dennoch bleibt die langfristig größte gute Lust doch das Prinzip, nach dem ich entscheide.

B: Genau. Aber wenn es gute und schlechte Lust gibt, man aber nur die gute erstreben soll, woher weiß ich was die ‚gute Lust‘ ist? — Nein. Sobald ich etwas nach Gut und Schlecht unterscheide, nehme ich schon ein höheres Prinzip an, nachdem ich gut und schlecht beurteile, sprich einen Maßstab. Nur was in sich immer gut ist, kann qualitativ das höchste Prinzip der Entscheidung und damit das eigentliche Entscheidungskriterium sein.

A: Das leuchtet mir ein. Ich verstehe aber nicht, was das jetzt mit der Vernunft zu tun hat, um die es doch ging.

4. Vorbereitende Prüfung der Frage, inwiefern das Menschliche (Vernunft) Maßstab des guten Handelns ist. Inwiefern Vernunft auf das Handeln wirkt: Unterscheidung des Wissens über praktisches Wissen in Hinsicht auf die Zwecke des Handelns.

B: Zunächst wollen wir mal festhalten, dass dieser Maßstab, nachdem wir die gute Lust beurteilen, das ist, was die Weisen für uns oben die ‚Natur‘, das ewig Menschliche nannten. Warum und inwiefern das die Vernunft ist, kann man nicht leicht sagen und bedarf etwas weiter auszuholen.

A: Keine Scheu. Der Weg bis zu unserem Dorf ist noch weit, die Nacht jung und ich begierig es zu hören.

B: Also gut.  Die Meinungen hierüber gehen sehr auseinander und mir scheint es schwer zu entscheiden, wer hier recht gesehen hat. Die Neueren legen das Wesen der Vernunft meist auf die Freiheit, sie ist das Menschliche und in jede Hinsicht gute. Die Alten hingegen legen es mehr in ein Vermögen das Wahre zu erkennen und das Wahre ist ihnen das schlechtweg Gute. Indem man das Wahre in seiner Vernunft ergreift und es sich zu eigen macht, ist man gut und im höchsten Sinne des Wortes Mensch.

A: Das scheinen mir glückliche Menschen gewesen zu sein, die glaubten, dass das Wahre das Gute ist — und was nicht gut ist, das ist noch nicht wahr. Wir wollen diese Auffassung betrachten.

B: So kann man es sehen. Daher stammt die tiefe Heiterkeit der alten Geschlechter, die in ihren Schriften bis in die heutige Zeit leuchtet. — Wie aber wollen wir es nennen, wenn einer etwas in seiner Vernunft ‚ergreift‘?

A: Ich würde es wohl ‚wissen‘ nennen.

B: Gut. Gibt es nun verschiedene Arten des Wissens? Zum Beispiel: Können wir nur etwas wissen oder können wir auch etwas über das Wissen wissen?

A: Wohl wahrscheinlich, ich kann schließlich auch Fragen, was das Wissen ist.

B: Was sagten wir darüber, dass die Lust kein Gut an sich ist? Sie war es nicht, weil wir einen höheren Maßstab unserer Entscheidung brauchten, der noch vorgab, was ‚gute‘ Lust ist. In welcher Art des Wissens werden wir den nun eher finden, in dem Wissen von etwas oder im Wissen von Wissen?

A: Mir scheint im Wissen von etwas, denn ich muss mich zwischen Sachverhalten entscheiden.

B: Plausibel. Aber prüfen wir es wie zuvor im Falle der Lust: Gibt es nicht auch gutes und schlechtes Wissen von etwas? Ist es ein gutes Wissen, wenn ich weiß, wie man ein starkes Giftgas herstellt?

A: Das weiß ich nicht. Mir scheint es nun vielmehr, als wäre ‚Wissen‘ nichts, was ich im sittlichen Sinne gut oder schlecht nennen würde. Auch ob es für mein Leben gut oder schlecht ist zu wissen, wie man dies oder jenes tut, scheint mir sekundär zu sein. Was ich vor allem wissen will, ist doch vielmehr: Was soll ich tun, nicht wie soll ich es tun. Was ich tun kann, muss ich schon wissen und wie ich es tun kann, frage ich hinterher.

B: Klug gesprochen. Wie sieht es aber mit der zweiten Weise des Wissens aus? Doch bevor du antwortest: Besteht Wissen von Wissen nur im Wissen davon, was Wissen ist, so wie du vorhin beispielhaft meintest, oder gibt es nicht noch eine zweite Art von Wissen, über das man Wissen haben kann?

A: Bedenke welche Tages- bzw. Nachtzeit wir haben! Das war mir zu kompliziert gesagt.

B: Ich meinte es so: Natürlich kann ich etwas über Sachverhalte in der Natur oder in geistigen Dingen, wie in der Mathematik wissen oder auch aus der Geschichte usw. Dann kann ich aber auch etwas über Handlungen wissen, also wie man dieses oder jenes richtig tut. — Nach deiner klugen Rede von gerade: Welches Wissen interessiert uns bei Entscheidungen vor allem? Doch wohl das Wissen über Handlungen: soll ich dieses oder jenes tun. Also ein ‚praktisches‘ Wissen.

A: Nun verstehe ich es und stimme zu. Aber wie muss man sich hier nun ein Wissen über praktisches Wissen vorstellen?

B: Was macht denn ein Wissen über ein Handlung aus, was ‚ergreifen‘ wir da in der Vernunft?

A: Ich meine du hast es schon gesagt: zu wissen, wie man etwas tut. Ich habe dabei also eine Art Handlungsanweisung im Kopf.

B: Das ist auf jeden Fall ein Teil an der Sache, jedoch scheint es dir nicht, dass du mit der Handlungsanleitung allein noch nicht weißt, was du eigentlich tust? — Kennst du die Geschichte von den Polynesiern, die das erste Mal ein Flugzeug sahen? Gleich bauten sie es aus Holz und Palmwerk nach und verehrten es fast wie einen Gott. Denke es dir nun umgekehrt: Hätte man ihnen zuvor den präzisen Bauplan und alle nötigen, schon vorgefertigten Materialien und Werkzeuge gegeben; wären sie am Ende mit dem neuen Gefährt davongeflogen?

A: Du meinst ehe sie je ein Flugzeug gesehen hätten? Wohl nicht, sie wussten ja nicht, was man damit macht. — Also, wir brauchen neben der Handlungsanweisung noch ein Wissen davon, was man damit macht, von seinem Zweck.

B: Wir haben also ein Wissen über praktisches Wissen schon gefunden: es teilt sich in Wissen von Zwecken und in das, wie man diese erfüllt. Scheint dir diese Teilung schon Hinreichend als Grundlage deiner Frage: Was soll ich tun?

A: Nein, offenkundig nicht. Ich wollte, um bei unserer neugewonnen Rede zu bleiben, vor allem Wissen, welche Zwecke ich verfolgen soll. Soll ich zuhause sitzen und lernen oder soll ich zu euch meinen Freunden kommen. Dass ich beides kann, weiß ich vorher, wie ich beides tue, findet sich dann. Das scheinen mir nun alle Komponenten meiner Entscheidung zu sein.

B: Wollen wir also sagen, dass das schlechtweg Gute im Wissen über praktisches Wissen liegt, sofern es sich auf das Wissen bezieht welche Zwecke man verfolgen soll?

A: Sperrig ausgedrückt, aber ja, das wollen wir. Mir scheint nämlich nicht, als könne man darin noch zwischen gut oder schlecht abwägen. Zu wissen was gut ist zu tun, ist immer gut.

5. Prüfung der Frage, inwiefern das Menschliche (Vernunft) Maßstab des guten Handelns ist. Kann die Tugend etwas an sich sein?

B: Dafür präzise! Außerdem können wir nun untersuchen, inwiefern dieses höchste Prinzip unserer Entscheidungen die Vernunft ist. Wenn ich es richtig erinnere, war Wissen das Ergreifen von etwas durch die Vernunft. Wissen von Wissen ergreift, so scheint es mir nun, jedoch nicht ‚etwas‘, sondern betrifft dieses Ergreifen selbst.

A: Das scheint mir plausibel anzunehmen.

B: Im Wissen von Wissen hat die Vernunft es also nur mit sich zu tun?

A: Allerdings.

B: In praktischen Dingen hat die Vernunft es also immer dann nur mit sich zu tun, wenn sie entweder Erforscht, wie ihr praktisches Wissen allgemein aufgebaut ist oder wenn sie erwägt, welche Zwecke sie verfolgen soll? Falls aber wenigstens das letztere Zutrifft, ist die Vernunft gerade das, was wir suchten, selbst: das höchste Prinzip unserer Entscheidungen — wie es auch schon die Alten und Neueren vor uns meinten.

A: Ich wüsste nicht, wie ich dem widersprechen sollte, nachdem, was ich vorher zugestanden habe. Dennoch fühle ich mich nicht, als hätte ich jetzt wirklich mehr davon begriffen, wie man gut Leben soll. Denn, dass ich dazu auf die Vernunft horchen soll (das ist doch das, was aus dem Folgt, was du gerade sagtes), schön und gut: Allein, was sagt mir die Vernunft denn? Wenn ich in mich hinein horche, höre ich nichts, was nach der Stimme der Vernunft klingt. Wie kann sie dann aber selbst etwas sein? oder mehr noch, das höchste Prinzip?

B: Die Alten hätten wohl gesagt: Dann hörst du schlecht.

A: Pah. — Und die ‚Neueren‘, dass ich unfrei bin? Was geht mich beides an, wenn ich es für mich nicht als wahr befinde? Ich will schließlich gut leben.

B: Du vergisst, dass ich selbst davon nichts verstehe. Ich bin nicht der Advokat dieser Ansichten. Sie sind Angebote an uns, unser Leben zu überdenken.

A: Spötter! Ich weiß wohl: Um etwas zu überdenken, benötige ich einen Maßstab … ein Wissen über Wissen … und am Ende bin ich wieder bei der Vernunft.

B: Das hast du gesagt.  Fest steht, dass sie glaubten, in der Welt sei Wahrheit und diese Wahrheit spreche sich ihnen zu, indem sie sie in der Vernunft ergreifen und umgekehrt die Wahrheit als Vernunft in der Welt ist. Ist sie das aber, so ist sie das Gute an und für sich. Wer Einsicht darein gewinnt und danach lebt, hat das gute Leben erreicht und ist in der vollen Bedeutung Mensch.

6. Zweifel am bisherigen Gang der Untersuchung. Gibt es andere Maßstäbe? Die Agape als Maßstab. Aber: Es gibt nicht die eine gute Lust.

A: Von mir aus. Den prophetischen Ton mal bei Seite: Ganz überzeugt von unserer Rede gegen die Lust als oberstem Prinzip, bin ich inzwischen nämlich nichtmehr. Nochmal zurück zum Maßstab also. Mögen die Alten und Neueren sagen, dass dieser in der Vernunft liegt; ich will zugestehen, dass es im Menschlichen liegt, denn einen Maßstab zur Bewertung der Qualität einer Lust brauchen wir durchaus und mir scheint nicht, dass der außer dem liegen sollte, der gut leben will.  Was wäre aber, wenn ich eine Art von Lust in mir finde, von der ich jederzeit sagen kann, dass ihre quantitative Maximierung für mich als Menschen immer gut ist? Ich denke da etwa an die geistige Lust. Du hast vorhin das Beispiel des Führens eines mathematischen Beweises genannt. Warum sollte ich dieser Lust nicht in unbegrenzten Maße nachgehen?

B: Wie gesagt, ich bin hier nicht eines anderen Advokat. Wenn du magst, prüfen wir auch diesen Vorschlag. — Erforschen wir zunächst, was wir da empfinden.  Wann empfinden wir diese rein geistige Lust? Nur wenn die Vernunft mit sich selbst beschäftigt, wie in der Mathematik oder oben in der Frage ‚Was ist Wissen?‘ oder auch, wenn sie sich im sinnlichen Gegenständen beschäftigt?

A: Das weiß ich nicht genau, denn ich bin mit dieser Art von Lust nicht sehr vertraut.

B: Vielleicht kennst du sie aber auch besser als du denkst. In der Beschäftigung der Vernunft mit sich selbst besteht diese Lust also scheinbar sicher. Empfinden wir aber nicht auch geistige Lust, wenn wir etwas Schönes betrachten? Zum Beispiel eine schöne Statue oder eine Blume.

A: Ich will nicht sagen, dass ich dabei rein geistige Lust empfände, aber es wird wohl auch solche dabei sein.

B: Ist es aber gewiss, dass die Lust am Schönen eine Lust äußerer Dinge ist? Könnte es nicht ebenso gut sein, dass wir diese geistige Lust nur deswegen empfinden, weil die Vernunft im Anblick des Schönen selbst in eine Art Harmonie gerät, da diese ihr äußerlich sinnfällig wird? Wäre es aber so, so empfände man geistige Lust nur in der Beschäftigung der Vernunft mit sich selbst.

A: Das weiß ich nicht zu entscheiden, doch scheint mir das Schöne etwas so geistiges zu sein, dass ich es glauben will; überhaupt gestehe ich der geistigen Lust gerne zu, rein geistig zu sein.

B: Und doch willst du die geistige Lust als ein eigenes Prinzip behaupten! Du warfst mir vorhin Haarspalterei vor und nun willst du einen Unterschied zwischen vernünftiger Tätigkeit und der Lust machen, die man nur bei derselben empfindet. — Zumal: wäre das nicht ein einseitiges Leben, das alles nur daraufhin abwöge, wie sehr es seine geistige Lust vermehrte?

A: Gut. Wie gesagt, ich bin mit dieser Art von Lust nicht sehr vertraut. Worum es mir ging, war das Prinzip und ob dieses in der bloßen Vernunft liegen muss.

B: Doch wie es scheint, haben wir nun eine Lust, die gut und schlecht sein kann, sowie eine solche, die zwar immer gut ist, jedoch voll in der vernünftigen Sphäre aufgeht. Oder fällt dir noch eine weitere Art der Lust ein?

A: Lass mich nachdenken. Vielleicht wäre noch die Lust an den Freunden zu nennen, auch die scheint mir immer gut zu sein und so gibt es vielleicht noch einige mehr. Doch sehe ich schon aus unseren bisherigen Beispielen, dass diese partikulären Lüste zu einem einseitigen Lebensentwurf führen würden. Du hattest wohl recht: Auch hier unter den guten Lüsten muss man diese erst erkennen und dann richtig komponieren.

B: Gut gesprochen. Das eine Leben fordert das eine Gute. Was wollen wir nun aber sagen: Ist die Vernunft das eine und schlechthin Gute oder gibt es noch etwas an sich Gutes neben oder über ihr?

A: Ich wüsste nichts Besseres zu sagen, als dass die Vernunft das einzig an sich und schlechthin gute ist. Dennoch scheint es mir immer noch leer dies zu sagen. Die Lust spricht zu mir und sagt mir, was ich tun soll, auch wenn es nicht immer gut ist. Die Vernunft ist für mich noch stumm. Du meintest ja vorhin, das in der Vernunft die Wahrheit spricht, aber das verstehe ich nicht.

7. Inwiefern sich die Vernunft  mit sich selbst beschäftigen kann. Ist Tugend etwas für sich? Ende.

B: Ich denke, ich verstand bisher noch nicht einmal, was wir eigentlich meinten, wenn wir ‚Vernunft‘ sagten. Wie könnte ich da wissen, was ihre Wahrheit ist? Die Weisen wissen es wohl, ich aber nicht.

A: Aber wir sagten doch, dass die Vernunft etwas weiß, indem sie die Wahrheit ergreift. — Doch ich merke schon, wie ich das so sage, dass ich es nicht verstehe.

B: Vielleicht können wir uns dem so näheren: Was meinten wir vorhin, wenn wir sagten, dass die Vernunft sich auf sich selbst richtet, indem sie über Wissen Wissen erlangt? Wir sagten darauf, dass die Vernunft zwar im Wissen allgemein die Wahrheit ergreift, sie aber auch dieses ‚Ergreifen‘ ergreifen kann und dadurch sich selbst ergreift. Deshalb war sie selbst der eigentliche Maßstab. Scheint dir das noch so?

A: Ja.

B: Ist das auch eine Art der Wahrheit? Sprich: Ist die Vernunft selbst wahr?

A: Notwendig.

B: Prüfen wir das genauer. Was wahr ist, das ist doch?

A: Offenkundig, aber ich verstehe nicht, was du mir damit sagen willst.

B: Du sagtest gerade, dass die Vernunft nicht zu dir spricht und dass sie also für sich allein nichts sei. Also war das Ergreifen des Ergreifens nichts für dich. Welchen Grund könnte das gehabt haben? Mir scheint vielleicht diesen: Was finden wir in der Vernunft? Doch nur das, was wir ergreifen und gewisse Verbindungen zwischen dem Ergriffenen. Zuletzt könnte nur das Ergriffene und nicht diese Verbindungen ‚wahr‘ sein.

A: Und so wäre die Vernunft für sich nichts.

B: Zumindest nicht mehr als ein leeres Gefäß, indem die Eindrücke der Welt bald so und bald so zusammengeworfen werden, bald aber auch so, dass sie den Dingen außer ihr gemäß sind und so verharren sie, bis man sie wieder vergisst.

A: Mir scheint an deiner Rede etwas nicht richtig zu sein und ich werde das Gefühl nicht los, dass du mich zum Besten haben willst. Denn wenn es so wäre, wie könnte ich dann noch gut leben? Nach dem, was wir bisher sagten, zerflösse mir dann alles in Beliebigkeit. Wo wäre da noch das rechte Maß?

B: Aber horche doch in dich oder besser noch schaue: Was findest du da? Sind da am Ende nicht nur die Bilder, Töne, der Geschmack und das Getast, dessen, was die Vernunft außer ihr ergreift? Wo ist da die Vernunft?

A: Also gibt es keinen Maßstab und unsere Suche war umsonst.

B: Das erste wohl, wenn dir unsere Untersuchung richtig zu sein scheint, das letztere aber wäre wohl eine eigene Untersuchung wert. — Doch schau, da ist schon die Kreuzung, an der sich unsere Wege trennen müssen.

A: Unbefriedigt und verwirrt lässt du mich zurück. Wir wollen das Gespräch aber einmal fortsetzen, wenn du uns wieder besuchst. Bis dahin lebe wohl und gute Nacht.

B: Auf Wiedersehen denn also mein Freund. —


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